Transkript
Regionalgeschichte auf die Ohren
Greta Civis: Juni 1975. Die Stadt Münster lehnt die Aufstellung eines Infotisches in der Fußgängerzone ab. Was wie eine Verwaltungsroutine klingt, tritt eine Welle los, die nicht nur vor Gericht landet, sondern auch in überregionalen Zeitungen erwähnt wird und bundesweite Solidarität nach sich zieht.
Denn die Antragstellerinnen, also diejenigen, die einen Infotisch machen wollten, waren Lesben. Und sie wollten über ihre sexuelle Identität informieren, aufklären, andere Lesben finden und sich der Stadtgesellschaft zeigen als das, was sie waren. Ganz normale Frauen, ganz normale Lesben. 50 Jahre später haben Pride Marchers Volksfestcharakter, passend mit Regenbogenaccessoires aus der Drogerie.
0:58 - Ich bespreche heute einen Meilenstein der Queer-Geschichte mit
Julia Paulus: Julia Paulus.
Greta Civis: Sieg der Sichtbarkeit. Queere Aufklärung in der Münsteraner Fußgängerzone 1975.
Liebe Julia, schön, dass du da bist. Du bist Referentin am LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte und du hast das Thema vorgeschlagen. Wie kamst du darauf? Wie kamst du zum Thema? Wie kam das zu dir?
Julia Paulus: Aus mehreren Gründen. Zum einen beschäftige ich mich als Referentin an diesem historischen Institut mit Geschlechterhistorischen Fragestellungen. und zum anderen durfte ich vor ein paar Jahren eine größere Ausstellung mit Claudia Kemper, einer Kollegin von mir, hier in Münster organisieren, zusammen mit Studierenden, zum Thema Queermünster. Und da in diesem Zusammenhang haben wir verschiedene Archive aufgesucht, haben Akten gewälzt und sind auf dieses Thema gekommen.
Greta Civis: Queer Münster gibt einen ganz guten Einblick über queere Infrastruktur in Münster in den 70ern. Kannst du das vielleicht nochmal ganz kurz einen Abriss geben, wie die Situation damals war?
Julias Paulus: Mit Münster hat man ja immer den Eindruck, es wäre eine Hauptstadt einer Provinz, also provinziell. Und damit so ein wenig verschnarcht und hinterwäldlerisch. Umso interessanter war es, dass 1972 die erste bundesweite Demonstration von Homosexuellen hier in Münster stattgefunden hat, die insofern bundesweit war, weil sie die erste war und zum anderen, weil aus der ganzen Bundesrepublik Vertreterinnen und Vertreter der damals sich schon gebildeten Organisationszusammenhänge von Homosexuellen zusammenkamen.
Ein Jahr zuvor hat sich die HSM gegründet, eine Gruppe von homosexuellen Studierenden, die 1971 im April eine Gruppe gebildet hat mit einer einzigen Frau, nämlich Anne Henscheid. Und die versuchte auf Diskriminierungserfahrungen aufmerksam zu machen, die sehr politisch war und versuchte ihre Themen eben in die Öffentlichkeit zu tragen, die aber dabei vergaß, die Frauenfrage auch als wesentliche Frage zu stellen. Sodass Anne Henscheid sehr früh schon merkte, dass sie, um andere Frauen für diese Themen zu interessieren, womöglich eine eigene Gruppe bilden muss, was sie dann noch zwei Jahre später, 1973, nämlich tat.
Und aus dieser Gruppe ist die HFM, Homosexuelle Frauen Münster, entstanden, die dann 1975 vorhatten, im Juni diesen Stand, von dem du eben sprachst, in Münster zu organisieren und eine Flugblattaktion. Das ist sozusagen die Herleitung. Und das Malheur war, dass die Stadt diesen Stand ablehnte. Die Flugblattaktion durften sie übrigens durchführen. Und im Nachhinein, das Ganze zog sich bis 1977 hin, gegen die Klage der HFM verlor, sodass die Stadt letztendlich, zwar nicht rückwirkend, aber dann für die Zukunft weitere Stände dieser lesbischen Organisation in Münster dulden musste.
Greta Civis: In den Vorgang, in den Verwaltungsvorgang und den Rechtsstreit gehen wir gleich nochmal genauer. Lass uns nochmal kurz gucken, wie das in den 70ern war, lesbisch zu sein. Du hast mir einen U-Ton mitgebracht vom Radiosender Donnerwettert. Kannst du kurz sagen, was Donnerwettert eigentlich war?
Julia Paulus: Donnerwettert war ein Radio von Frauen und lesbischen Frauen insbesondere, die im Bürgerfunk Radio machen durften, konnten. Und sie sich zusammengetan haben.
Greta Civis: Mit so einem festen Slot pro Woche?
Julia Paulus: Ganz genau. Einmal in der Woche, beziehungsweise alle zwei Wochen, durften sie eine Sendung machen. Und verschiedene Themen, ganz unterschiedlicher Art, aus Frauen, aus feministischer oder eben auch aus lesbischer Sicht, diskutieren.
Und in diesem Zusammenhang haben sie dann auch einmal das Thema gehabt, lesbische Geschichte in Münster, und sind losgegangen, um zu gucken, wen man denn noch als Zeitzeuginnen gewinnen kann. Und eine der wirklich letzten Zeitzeuginnen, die unmittelbar an der Gründung der HFM teilgenommen hat und auch noch hier in Münster lebte, haben sie dann interviewt.
Ja, und dann haben wir zu dem Zeitpunkt auch überlegt, es müsste in Münster dann noch mehr Frauen geben. Und dann war die Überlegung in der Tageszeitung, eine Anzeige zu machen, eine eindeutige Anzeige. Und die wurde uns abgelehnt. Wir durften das Wort Lesbe nicht erwähnen. Das, was ging, was angenommen wurde, war, Junggesellin sucht nette Freundin. Und so haben wir dann eine Anzeige aufgegeben. und haben dann auch entsprechende Reaktionen gekriegt. Das heißt, wir haben ganz verrückte Reaktionen gekriegt. Da haben uns Frauen Briefe geschrieben mit Fotos dabei. Eine weiß ich noch ganz genau. So einen schönen blonden Schopf. Und hat einen kleinen Pudel auf dem Schoß. Die suchte irgendwie Freunde, mit denen sie mal tanzen gehen konnte, was ja auch legitim ist. Hätte man ja auch darunter verstehen können.
Und eine Frau hat uns geschrieben, die war etwas älter und da hatten wir schon den Eindruck, also die hat erst ganz knapp geantwortet, die wollte uns dann treffen und dann haben wir miteinander telefoniert, haben einen Zeitpunkt vereinbart, wo wir uns treffen, irgendwo auf der Straße und dann sind wir beide dann da hingefahren, ich mit meiner Freundin und wir steigen aus und da kommt uns so eine ältere Dame entgegen mit so einer karierten Hose, flotten Gang, ganz kurze Haare und wir dachten sofort, also sie sagen, Aha, ich glaube, das ist die richtige Adressatin, die wir gesucht haben. Es ging dann so weiter, eigentlich wollten wir uns ja irgendwo treffen. Und auf der Straße treffen, dann irgendwo hingehen. Und wir trafen uns und die hatte uns kurz gesehen und hat gesagt, ach wisst ihr was, wir können auch zu mir gehen, ich wohne nämlich hier. Die wohnte nämlich so zwei Türen nebenan. Sie wollte aber auch erstmal gucken und sicher gehen, was kommen da für Frauen. Sind das wirklich welche, die jetzt einen Kegelclub suchen oder sind das solche? Ja, und wir waren dann solche. Und so haben wir uns dann kennengelernt.
Julia Paulus: Sie beschreibt das sehr schön, was das für eine Situation damals war. Es war eine Situation, wie wir uns heute gar nicht mehr vorstellen können. In den Westfälischen Nachrichten, immerhin der größten Tageszeitung in Münster, durfte an keiner Stelle das Wort lesbisch oder homosexuell auftauchen. Erst in den 90er Jahren, zum Teil, wie wir dann gesehen haben, auch erst Anfang der 2000er, sind überhaupt Artikel erschienen, die sich in irgendeiner Weise mit Homosexualität beschäftigt haben, beziehungsweise darauf aufmerksam machten, dass Veranstaltungen stattfanden. Das war also nicht möglich gewesen. So mussten sie über Zettelaktionen an der Universität oder in anderen Räumlichkeiten versuchen, Gleichgesinnte zu finden.
Greta Civis: Oder verklausulieren.
Julia Paulus: Oder verklausuliert!
In der Weimarer Republik, die immerhin sozusagen als große, experimentierfreudige, liberale, aufgeschlossene, emanzipatorische Republik galt, zumindest in Berlin, da hatte man auch genau solche Formulierungen, um auch in Tageszeitungen auf sich aufmerksam zu machen. Also insofern muss man sich mal vorstellen, 50 Jahre später hatte man sozusagen keine andere Möglichkeit, um in dieser Weise, nur in dieser Weise auf sich aufmerksam zu machen.
Und das Interessante ist, anscheinend war das immer noch in der Erinnerung vieler, diese Formulierung, sodass dann doch peu à peu bis zu 2030 lesbische Frauen zusammenkamen. Irgendwann platzte natürlich dann die eine oder andere Wohnung, in die man sich zurückziehen konnte und so überlegte man sich, was können wir machen. Und da sind die lesbischen Frauen auf die Idee gekommen, weil sie zum Teil ja sowieso schon in anderen feministischen Gruppierungen auch sich organisiert hatten, dass man mit anderen heterosexuellen Frauen, die auch ebenfalls politisch interessiert waren, sich zusammentat, um ein Frauenzentrum aufzumachen, was man dann auch tat.
Und diese beiden Gruppen haben dann wenigstens einen größeren Raum, war nicht viel größer, aber ich sag mal, man hatte zumindest einen nicht mehr ganz so privaten, öffentlichen Raum, wo Frauen, wenn sie die Adresse hatten, einfach hingehen konnten. Das war schon mal sehr wichtig. Genau.
Was waren die Themen gewesen? Die Themen waren, abgesehen von der Öffentlichmachung, von der Existenz von lesbischen Frauen überhaupt, waren das das Öffentlichmachen von Diskriminierungserfahrungen, das Einklagen von Rechten, aber auch die Möglichkeit, sich überhaupt zu finden, einen Schutzraum zu haben, ein Safe Space, würden wir heute sagen, was in der damaligen Zeit ein Novum war. Und wir wissen von allen Gruppen, ob sie nun größer oder kleiner sind, wie wichtig es ist, dass man untereinander die Möglichkeit hat, sich auszutauschen. Und das ist eigentlich der Anfang auch, ich sag mal, von jeder Politisierung gewesen.
Man hat sich erstmal ausgetauscht über sich selber, das war bei der Frauenbewegung übrigens nichts anderes um mitzubekommen welche anders gelagerten Interessen beziehungsweise Erfahrungen man gemacht hat um daraus wiederum politische und ich sag mal reformerische Diskussionsansätze zu finden, um etwas zu bewegen in der Gesellschaft, um sich auch zu verorten in der Gesellschaft.
Greta Civis: Da ist ja ein Infotisch; war ja klar, das macht man bis heute, Infotische, war aber in den 70ern, glaube ich, noch ein klassischeres Mittel.
Julia Paulus: Richtig, genau. Man kannte das natürlich von Wahlkämpfen, man kannte das von Organisationen, von Vereinen, die nicht nur auf sich aufmerksam machen wollten, sondern Veranstaltungen ankündigen wollten. Genau das gleiche Interesse hatte damals die HFM, die homosexuellen Frauen in Münster auch. Sie wollten auf der einen Seite überhaupt auf sich aufmerksam machen, hallo, hier gibt es uns und da könnt ihr hinkommen. Und auf der anderen Seite wollten sie schon deutlich machen, dass es eben nicht selbstverständlich ist, als lesbische Frau Händchen halten durch die Stadt zu gehen, dass man Angriffen ausgesetzt war, dass man nicht vorkam in Zeitschriften, Büchern, in Schullektüre etc.
Greta Civis: Und die Erlaubnis für den Infotisch wurde vom Liegenschaftsamt der Stadt Münster abgelehnt. Und dann haben zwei Mitglieder dieser Gruppe, nämlich Susanne Volland und Halina Bentkowski, haben Anwälte bzw. Anwältinnen hinzugezogen. die Kanzlei Bernd Meisterernst und Mechthild Otter-Düsing und sie haben tatsächlich eine Sondernutzungserlaubnis erstritten. Zuerst mal ist aber auf das Anwaltsschreiben von der Stadt in folgender Weise geantwortet worden:
Im vorliegenden Fall steht jedoch dem Gebot der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs das Informationsinteresse einer zahlenmäßig äußerst geringen Bevölkerungsgruppe gegenüber, deren Ansichten und Ziele unseres Erachtens allgemeines Interesse in der Bevölkerung weder finden noch verdienen. Jedenfalls nicht in dem Maße, dass hierfür die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs zurückzutreten hätten. Eine weitere Frage ist es, ob die Probleme der homosexuellen Frauen in dieser Art und Form auf der Straße erörtert werden sollten.
Greta Civis: Also wirklich an zwei Stellen ganz deutlich in der Art argumentiert wird, die Lesben diskreditiert.
Julia Paulus: Absolut. Das Interessante ist ja, also es werden ja nicht nur die Lesben durch diese Äußerung diskreditiert, sondern umgekehrt. Die Bevölkerung wird sozusagen auch beschrieben als eine, die sowieso kein Interesse hat, das weiß die Stadt angeblich.
Greta Civis: Und wo Lesben auch nicht zugehören.
Julia Paulus: Wo Lesben auch nicht dazu gehören, die Bevölkerung und die Lesben, genau, das sind sozusagen zwei Gruppierungen, die nicht zueinander passen. Und viel schlimmer noch, sie finden kein Interesse, so wird in dieser Äußerung der Stadt gesagt, sondern sie verdienen noch nicht mal das Interesse. Das ist also eine Wertung, die schon ziemlich krass ist.
Greta Civis: Und das konnte dann ja auch nicht gehalten werden, aber vielleicht gucken wir nochmal ein bisschen genauer, wie kam das, was war das für eine Form der Diskriminierung? Die Frauen haben ja auch dann beschrieben im Nachhinein, sie haben heftige Reaktionen auch gekriegt auf diesen Infotisch, als sie ihn dann machen durften. Was war das für eine Angst und woher kam die? Die Diskriminierung von Queerness ist ja nicht in den 70ern erfunden worden. Im Nationalsozialismus beispielsweise wurden schwule Männer verhaftet, gefoltert, eingesperrt und verstümmelt. Und Lesben kamen ebenfalls in KZs, eher unter anderen Labels. Du hast schon den Rekurs auf die Zwanziger gemacht. Was ist in diesen 50 Jahren eigentlich passiert? War das die gleiche Art von Diskriminierung? Hat sich da was geändert?
Julia Paulus: Innerhalb der 50 Jahre hat sich sogar etwas verschärft. verschärft. War es in den 1920er Jahren, da gab es schon den Paragrafen 175 der schwule Verbindungenverbot, Sexualitätverbot unter Männern, nicht unter Frauen übrigens, das war nur in Österreich der Fall gewesen. Es gab es schon seit dem Kaiserreich, in der Weimarer Republik wurde es wie gesagt fortgeführt. Da war es aber so gewesen, dass erwachsene Männer, wenn das sozusagen mit Einverständnis stattfand im Privaten, dass das möglich war. Ja, sehr schwierig war es dann, wenn man unter 21, das war damals die Grenze gewesen, Beziehungen aufnahmen zu Männern. Und man durfte natürlich keine Werbung machen und so weiter.
Aber in den 20er Jahren war es eben so, das ist interessant, wenn man sich das anschaut, in Berlin war es sehr wohl, ich sag mal möglich, es gab Zeitschriften und so weiter, es gab also auch ein liberales Klima, dass das diskutierte. Im Nationalsozialismus wurde das absolut geändert, es wurde sozusagen noch verschärft. Die strafrechtliche Verfolgung ging bis dahin, dass Zuchthaus eben sozusagen eine Strafmaßnahme war, Bis dahin, dass auch das Konzentrationslager sozusagen ein Ort war an dem Schwule, aber eben auch Lesben, und du sagst schon gerade unter anderen Umständen, eingesperrt worden sind, beziehungsweise sogar zu Tode kamen.
Lesbische Frauen, da sie ja nicht unter diesem §175 fielen, wurden meistens mit dem Begriff der „Asozialität“ eingewiesen, ins Zuchthaus beziehungsweise in die Konzentrationslager. Und das war natürlich ein Begriff, das konnte alles und nichts sein. Das war eine richtig schwierige Geschichte auch. Leider gibt es natürlich aufgrund dieser Sache oder ich sage jetzt mal leider, weil das in der Geschichtswissenschaft eben auch zu großen Diskussionen führt, inwiefern Lesben überhaupt verfolgt worden sind im Nationalsozialismus. Leider gibt es dann eben aufgrund dieses Einweisungsgrunds keine Zahlen. Bei § 175 kann man mehr oder minder feststellen, wie viele Menschen aufgrund eines solchen Paragraphens verurteilt worden sind. Das ist bei Lesben dann sehr viel schwieriger auch. Das ist sozusagen eine geschichtswissenschaftliche Diskussion.
In den 50er Jahren, also man muss sich ja vorstellen, das waren ja Menschen, die verurteilt worden sind und im Konzentrationslager eingewiesen worden sind, die aufgrund einer Verschärfung durch das nationalsozialistische Regime noch eine größere Einbuße hatten in ihrem Leben, wenn man so will. Also noch mehr Leid erleiden mussten. Und in den 50er Jahren hat man statt diesen Paragraphen, diese Verschärfung des Paragraphen aufzuheben, was ja eigentlich Anlass genug gewesen wäre, ich sag mal zurückzugehen zumindest auf die Weimar-Verfassung, hat man es beibelassen. Und es gab schon seit den 50er Jahren, in Frankfurt hat das angefangen, eine Riesenzahl von Urteilen wiederum gegen und oftmals die gleichen Männer, weil sie hatten ja die Listen, die schon im Nationalsozialismus in Gefängnissen und im Konzentrationslager sitzen mussten. Das ist unglaublich, diese wahnsinnige Geschichte, die erst, ich sag mal, vor kurzem aufgelöst worden ist, die sich da abgespielt hat.
Lesben blieben ein bisschen unter dem Radar, weil man eben sozusagen nicht den Zugriff auch über diesen Paragrafen hatte. Und weil lesbische Frauen generell oder ihnen wurde generell eigentlich eine Sexualität abgesprochen, weil alles, was nicht penetrierende Sexualität meinte, war keine Sexualität. Also nur die heterosexuelle und penetrierende Sexualität ist überhaupt Sexualität. Und bei den Österreichern, wie gesagt, da gab es ein Gesetz gegen lesbische Liebe, das dann in den 60er Jahren nochmal revidiert wurde, aufgelöst worden ist mit dem Hinweis, wir wollen das jetzt lassen, weil das Problem ist bei lesbischer Liebe, man kann sie so schlecht von Körperpflege unterscheiden.
Greta Civis: Du hast das im Vorgespräch erzählt, man kann die lesbische Liebe so schlecht vom Körper kriegen.
Julia Paulus: Ja, das könnte ja auch eine Massage gewesen sein oder die lagen beieinander und haben sich mit dem Waschlappen, was weiß ich, gereinigt.
Greta Civis: Ich hatte mich gefragt, ob das vielleicht viel aus Knast- oder Internatskontexten oder so. Also, weil üblicherweise ist ja dann auch keine dritte Person oder ist ja keine Person im Schlafzimmer anwesend, die dann zwei erwachsene Frauen anzeigen würde. Es kann ja eigentlich nur ein Kontext von einer Anstalt sein.
Julia Paulus: Nee, das ist etwas anderes. Genauso bei zwei Männern war es ja auch so, die waren ja meistens alleine in dem Raum, in dem sie Sexualität hatten. Nein, es ging um Diffamierung. Also Denunziation war ein Riesenthema im Zusammenhang mit der Verurteilung und Diffamierung, eben der Denunziation von Homosexuellen.
Das konnte natürlich auch genutzt werden. Das heißt, wenn jemand annahm oder beweisen konnte oder ich sag mal jemanden diskreditieren wollte, war es ganz einfach. Man hat ihn einfach als schwul oder lesbisch hingestellt. Ganz, ganz einfach. Dann war das sozusagen ein sittliches Vergehen und das ist in einer Zeit, in der ein hochmoralisch aufgeladener, eine hochmoralisch aufgeladene Gesellschaft, die meinte sozusagen nach dem Nationalsozialismus, sich besonders tugendhaft geben zu müssen, war das natürlich besonders schlimm. Also die selber Dreck am Stecken hatten, die versuchten dann alles zu machen, um sich durch so ein Verhalten reinzuwaschen, nämlich durch die Diskreditierung der anderen.
Greta Civis: Und dann war es in den 70ern aber sogar, dass lesbische Frauen als eine Bedrohung wahrgenommen wurden.
Julia Paulus: Ja, das ist richtig. Und zwar, ich sag mal so, das hatte einen besonderen Anlass. Man muss dazu sagen, die 70er Jahre waren schon eine Befreiung. Denn 1969, 1968, 1969 hat die Bundesrepublik eine Revision, eine große Revision vorgenommen des Paragrafen 175, der sehr viel liberaler gestaltet worden ist.
Greta Civis: Kannst du kurz nochmal den 175 erklären und die Revision?
Julia Paulus: Genau, der Paragraf 175 wurde dahingehend revidiert, dass Männer eben nicht mehr verurteilt werden konnten, wenn sie eine Beziehung eingingen. Nur dann, wenn sie offensichtlich mit Jugendlichen Geschlechtsverkehr hatten und das nachgewiesen werden konnte.
Das war der Anlass auch gewesen, dass sich eine homosexuelle Bewegung überhaupt konstituierte. Weil sie hatten damit die Möglichkeit, nach draußen zu gehen. Vorher durfte man ja sicher nicht zeigen. Man durfte in keinster Weise darauf aufmerksam machen, dass man homosexuell ist und entsprechend politische Forderungen stellen. Das war überhaupt der Anlass gewesen, sich zu outen in der Öffentlichkeit und dann auch mit eigenen Forderungen aufzutreten. Und deswegen auch 1971 und folgende kamen dann diese Gruppen überhaupt erst auf. Initialzündung war natürlich auch der Film von Rosa von Braunheim „Nicht der Homosexuelle ist, pervers sondern die Gesellschaft die ihn dazu macht“.
Das war auch ein Motto gewesen vielleicht ganz kurz Ein Motto, das auf den Flugblättern stand, beziehungsweise auf den Sandwiches, mit denen die Frauen damals, als sie ihren Stand nicht machen konnten, durch die Stadt gegangen sind. Das war einer von den Sprüchen gewesen, die sie dort hatten. Die 70er Jahre waren für lesbische Frauen dennoch sehr schwierig, weil im Zuge der Liberalisierung, auch der Thematisierung von Sexualität, Lesben pornografisch vermarktet worden sind, wenn überhaupt und niemals ernsthaft über sie geschrieben worden ist.
Das erste Mal, dass ernsthaft über lesbische Frauen in einer Boulevardzeitung oder in einer breiten öffentlichen, damals sehr breit wahrgenommenen Zeitschrift sozusagen seriös gesprochen worden ist, das war 1975 als Alice Schwarze Anne Henscheid, unsere Münsteranerin, die die HFM gegründet hat, berichtete. Sie hat mit ihr ein Interview geführt und dadurch wurde Anne Henscheid aus Münster die erste Frau, die überhaupt öffentlich als lesbische Frau in Erscheinung getreten ist.
Parallel dazu, und das war ein, zwei Jahre vor, 1973, war etwas Furchtbares passiert, was eben viele aufhorchen ließ, unbedingt sozusagen jetzt auch mal, und Anlass eben auch für Alice Schwarzer, auf die Diskriminierungserfahrung von Lesben aufmerksam zu machen, als nämlich ein Prozess in EZHO stattgefunden hat, dass zwei Frauen, ein Paar, wurde angeklagt, den Mann, den Ehemann der einen Frau umgebracht zu haben, beziehungsweise den Auftrag gegeben zu haben, ihn umzubringen, weil die Frau in einer sogenannten, heute würden wir sagen, toxischen Beziehung war. Der Mann wollte nicht, dass sie sich scheiden ließ und das war, er war gewalttätig, ganz genau, hat sie misshandelt. Sie konnte sich dato nicht von dieser Beziehung lösen, da bis 1975 das Scheidungsrecht ein anderes war, es war das sogenannte Schuldprinzip. Sie wäre schuldig gesprochen worden und hätte sozusagen dann auch einen Riesenmakel gehabt, hätte auch nichts gehabt sozusagen.
Erst das Zerrüttungsprinzip, was ja dann durch das neue Ehe- und Familiengesetz gekommen ist, hat dem ein Riegel vorgeschoben. Das heißt, sie war in einer sehr prekären Situation und ohne das jetzt rechtfertigen zu wollen, ist es anscheinend dazu gekommen, dass sie wirklich jemanden beauftragt haben, diesen Mann dann umzubringen. Dieser Prozess kann man sich ...
Greta Civis: Also Sie und Ihre ...
Julia Paulus: Sie und Ihre Partnerin haben das in Auftrag gegeben. Und das war ein Riesenprozess gewesen. Und im Zuge dieses Prozesses wurde in keinster Weise natürlich auf den Umstand eingegangen, dass diese Frau jahrelang misshandelt worden ist usw. Sondern nur natürlich auf diese Tötungsabsicht.
Und was dann parallel lief, und das war das Furchtbare, Die Bild-Zeitung, die ja immer dafür sich sozusagen gerierte, auf sogenannte Minderheiten draufzuschlagen, tat das hier auch, indem sie eine Serie von Artikeln gebracht hat, wo sie Lesben in widerlichster Form diskreditierte. Also zu Hexen sozusagen machte, irgendwelche Fälle oder Erzählungen dann publik machte, wo Frauen, die mit Frauen zusammen waren, sozusagen sich furchtbar und widerlich verhalten haben. Und das ging dann sozusagen über eine ganze Zeit lang. Da haben sich dann schon viele Frauen zusammengetan, insbesondere in Berlin und dann eben auch in Münster, um dagegen anzugehen.
Das war übrigens auch ein Grund, 1975 für die Frauen in Münster zu sagen, vor dem Hintergrund dieser furchtbaren Artikel, das war nämlich das, was ja die bundesrepublikanische Bevölkerung sozusagen las, also die Bild-Zeitung. Entweder haben sie sie gekauft oder sie sahen sie am Kiosk mit den großen Lettern. Das war der Eindruck, den man von Lesben hatte. Um dagegen anzugehen, war das eben auch ein Mittel, einen solchen Stand zu machen und aufzuklären im besten Sinne.
Greta Civis: War das ein Backlash, dass sich insgesamt die Gesellschaft geöffnet hat und dann von konservativer Seite nochmal richtig gegengehauen wurde?
Julia Paulus: Nein, Backlash kann man nicht sagen, weil die Gesellschaft war in der Zeit überhaupt gar nicht aufgeschlossen gegenüber Homosexuellen. Man darf nicht vergessen, Recht und Mentalität gehen meist nicht gleichzeitig, gehen nicht konform, sondern es ist häufig so, das ist ganz interessant, das ging auch so mit der Veränderung des bürgerlichen Gesetzbuches in den Ende der 50er Jahren, als der Gleichberechtigungsgedanke Eingang fand sozusagen in die Gesetzgebung. Es hat noch ganz lange gedauert, bis das sozusagen in den Köpfen der Menschen war. So war es auch nach 1969 so gewesen, dass ein Gesetz zur Aufhebung der radikalen Bestrafung von Homosexuellen nicht dazu geführt hat, dass alle Menschen auf einmal sagen, klick, jetzt ist alles gut und jetzt finden wir Homosexuelle toll, wir können auch über sie reden. Ganz im Gegenteil, es war in der Welt.
Und wenn es etwas in der Welt war, musste es nochmal neu ausgefochten werden. und entsprechend war diese Reaktion von der Bild-Zeitung, dann natürlich noch bei Frauen, wir wissen, die Bild-Zeitung mit ihrer nackten Frau immer möglichst auf der ersten, wenn nicht auf der zweiten Seite, war das ein gefundenes Fressen. Aber es ging eben auch um Homosexualität, um Sittlichkeit mal wieder, um Moral, um die berühmte Doppelmoral, die hier die Möglichkeit hatte, nochmal rausgelassen zu werden. Das heißt, es begann erst sowas wie ein Gespräch darüber und insofern war es kein Backlash, sondern es war dieses Hin und Her, dieses sozusagen auf der einen Seite Liberalität und auf der anderen Seite doppelmoralische Einhegung dieser Gruppe und möglichst auch Exkludierung dieser Gruppe aus der sogenannten Gesellschaft. Also es war ein Hin und Her und mal ganz ehrlich gesagt, das Ganze dauert ja zum Teil bis heute noch an.
Greta Civis: Hm. Einiges mutet da erschreckend modern an. Um die Geschichte des Infotisches weiterzuerzählen, die Anwälte haben dann dem Schreiben der Stadt nochmal widersprochen. Das Ganze ging vor Gericht, vor das Verwaltungsgericht. Und das Verwaltungsgericht hat dann entschieden, die Sondernutzungserlaubnis durch die Stadt zu erteilen. Die Verweigerung war nicht rechtmäßig. Und in der Begründung wird explizit darauf verwiesen, dass es bei diesem Infotisch nicht um Werbung gehen würde
Aus der Urteilsbegründung. Es bestehe sowohl ein Bedürfnis der isolierten und diskriminierten homosexuellen Frauen zur Information der Öffentlichkeit über ihre Probleme, als auch ein Bedürfnis der Öffentlichkeit nach Informationen über Homosexualität der Frauen. Beabsichtig seid lediglich eine Selbstdarstellung und keinesfalls eine Werbung für weibliche Homosexualität
Greta Civis: Damals gab es also auch schon die Angst, man könne Werbung für Homosexualität machen.
Julia Paulus: Völlig richtig. Eines der Sätze, die in der Anklageschrift, wenn man es so sagen will, von der Stadt auftauchte, war, dass Lesben Kinder verführen. Allein schon, dass sie sozusagen in der Öffentlichkeit auftreten, zack, würden Kinder und Jugendliche sozusagen sofort lesbisch werden. Und das andere war, dass generell das Auftreten und das Informieren über lesbische Liebe dazu führt, dass Frauen scharenweise lesbisch werden.
Greta Civis: Was vielleicht nicht für die heterosexuellen Beziehungen in den 70ern spricht, aber gut.
Julia Paulus: Ja gut, also diese Angst gibt es anscheinend. Manchmal noch ein bisschen in die Gegenwart. Aber nein, es ist wirklich so, dass das ganz interessant ist. Wenn doch die heterosexuelle Gesellschaft sich ihrer so sicher sein kann, dass das das Normale ist und wie sie immer sagen, „Natürliche“, dürfte sie ja überhaupt keine Angst haben, dass eine oder zwei, lass es drei oder vier sein, Lesben auf einer Straße, die mit Sandwiches durch die Gegend laufen oder Flugblättern oder auf einem Stand stehen, eine ganze Gesellschaft in Münster auf einmal lesbisch werden lässt.
Greta Civis: Daran gestellt, ob das auch geht. Ich fand auch sehr schön die Aufzählung in der Begründung, wer denn alles Infotische machen durfte, problemlos. Da steht dann:
…dass der Beklagte in anderen Fällen nicht auf das Informationsbedürfnis abgestellt hat. Er gibt sich auch daraus, dass er anderen Gruppen, für deren Informationen kein ersichtliches allgemeines Interesse besteht, die Erlaubnis zur Aufstellung eines Informationsstandes erteilt hat. So zum Beispiel den Mormonen, der Liga gegen den Imperialismus, der Gesellschaft für deutsch-chinesische Freundschaft, der Baha'i-Sekte, dem Arabischen Studentenverband, der Elterngruppe Schonebeck e.V. und dem Deutschen Freidenkerverband.
Greta Civis: Also man ja mitgehen würde, dass das wahrscheinlich auch eher Partikularinteressen sind oder dass das wahrscheinlich wirklich Partikularinteressen sind, zumindest teilweise. und dann eben im Vergleich zu sagen, ja, das ist alles berechtigt, die können gerne alle machen, da ist der freie Verkehrsfluss dann auch vielleicht doch nicht so wichtig, aber die Lesben, die dürfen es nicht.
Julia Paulus: Weil, und das muss man nochmal dazu sagen, das wurde ja auch so gesagt, das, was Lesben angesprochen haben, ging im wahrsten Sinne nicht nur auf, sondern unter die Haut. Weil hier war etwas angesprochen, womit Gesellschaft in dieser Zeit noch große Schwierigkeiten hatte, nämlich mit Sexualität. Aber auch mit Lebensformen. Und das ist etwas, was auch mit der Privatheit zu tun hat, die die Frauenbewegung ja gerade aufdecken wollte als das Politische. Das Private ist politisch, hieß ja deren Slogan. Und es hatte was damit zu tun, wie Intimität zu gestalten ist.
Also dass Intimität frei ist und eben nicht reguliert werden soll, sodass eben auch, ich sage mal, Menschen gleichen Geschlechts miteinander sein zu können, wie auch immer. Und ich glaube, das war der Furor, der Aufschrei sozusagen, der dann, ich sage mal, in dieser Form artikuliert worden ist.
Ich habe etwas gefunden, was vielleicht ganz interessant ist, um deutlich zu machen, mit was die Frauen konfrontiert waren, als sie nun den Infostand nicht aufstellen durften, aber als Sandwich beziehungsweise mit ihren Flugblättern durch die Ludgeri-Straße oder Salzstraße, das ist noch nicht so ganz klar, das konnten wir nicht so genau rausfinden, ihre Parolen bzw. ihre Forderungen an die Frau und an den Mann bringen wollten.
Bei einem gemeinsamen Abendessen nach der Aktion gaben die Frauen aus dem Frauenzentrum, die mitgegangen sind damals, den HFM-Frauen zu verstehen, dass sie zwar mit vielem, aber nicht mit derartigen Erniedrigungen und Aggressionen gerechnet hätten. Sie hatten zum ersten Mal erfahren, was es bedeuten kann, als lesbische Frau in der Öffentlichkeit aufzutreten. Zwar waren die Reaktionen der Bev breit gestreut allerdings negativ So gab es Passanten die auf das angebotene Flugblatt die Frauen mit „Schweine“ beschimpften nachdem sie es vor ihnen demonstrativ zerknittern. Einige reagierten mit dem Hinweis, dass sie erst einmal tüchtig arbeiten müssten, damit ihnen derartige Schweinereien vergingen. Es gab auch Passanten, die die Bemerkung äußerten, ihr gehört öffentlich aufgehängt.
Einige wenige gingen mit den Frauen in eine Diskussion, in dem sie bekräftigten, dass lesbische Frauen sicherlich auch eine Lebensbereicherung hätten, schließlich könnten eigentlich alle nach ihrer Vorstellung glücklich werden. An diesen Diskussionen beteiligten sich überwiegend Männer und nur einige, zumeist jüngere Frauen, die die Aktion mit den Worten kommentierten, gut, dass es endlich einmal informiert wird, dass es euch gibt. Sie ermunterten, sie weiterzumachen und bemerkten, dass die Frauen ganz schön mutig waren. Ansonsten blieb aber für die Frauen der HFM das Gefühl zurück, wie aussätzig behandelt worden zu sein.
Da alle, Zitat, „uns ihre gesellschaftliche Sicherheit zu spüren gaben und sich ahlten in dieser Sicherheit und uns in Distanz hielten, uns beleidigten, uns diskriminierten, angeekelt auf uns blickten“. Zitat Ende.
Greta Civis: Kannst du noch kurz die Quelle sagen?
Julia Paulus Das ist ein Protokoll einer Sitzung der HFM, die im Anschluss an die Aktion im Juni 1975 verfasst worden ist. Das findet man im Archiv der schwul-lesbischen Bewegung Münsters. Das befindet sich jetzt im Stadtarchiv, ist allgemein zugänglich, sodass man dort auch weitere Forschung betreiben kann.
Greta Civis: Das war nochmal ziemlich eindrücklich, wie aggressiv das Klima wirklich war. Ich würde gern sagen, dass sich ja seitdem ganz viel getan hat. Es hat sich ganz viel getan. Andererseits gibt es auch ganz viele Angriffe auf queeres Leben wieder. Ich habe das in der Einleitung so ein bisschen als Paukenschlag, als Meilenstein der queeren Geschichte deklariert. Ist das ein Meilenstein oder eine Fußnote? und wir haben jetzt die ganze Zeit über Lesben geredet, ein wenig über schwule Männer, ein wenig über heterosexuelle Frauen. Wir haben uns trotzdem für das Label Queer entschieden dafür. Vielleicht erst mal dieses Meilenstein oder Fußnote und dann auch, wieso wir von Queerer-Geschichte reden und nicht etwa von Lesben- oder Frauengeschichte.
Julia Paulus: Ich würde nicht nur als Münsteranerin sagen, es war ein Meilenstein gewesen. Ein Meilenstein im Zusammenhang dessen, was vorher in Münster schon passiert ist. Die Gründung einer ersten lesbischen Gruppe überhaupt. Zweitens die Demonstration. Drittens das Aufwachen insofern, als sie gesagt haben, wir bleiben nicht in unserem Wohnzimmer, sondern wir machen ein Frauenzentrum. Und wir gehen sogar noch weiter, nämlich auf die Straße, indem wir einen Infostand machen. Das hat Kreise gezogen. Diese Frauengruppe hat im Anschluss daran, als sie gemerkt haben, dass das von der Stadt eben nicht gutiert worden ist, hat sie ein Informationsblatt gegründet, dass alle lesbischen Gruppen, so sie überhaupt schon bestanden in der Bundesrepublik, ansprechen sollten. Die sollten selber aus ihren Erfahrungen berichten, um sich zusammenzuschließen und um solche Aktionen auch zu planen.
Und im Zuge dieser Erzählung, dieser Erfahrungsberichte, die Münster dann in die Breite streute, weil sie erzählten immer genau, was dann welches Gericht jetzt wieder ein Urteil erbracht hatte und wie sie selber vorgegangen sind, gab es auch an anderer Stelle solche Aktionen. Und das ist schon ein kleiner Meilenstein, weil es ist eine andere Art von Öffentlichmachung, im wahrsten Sinne des Wortes Marktplatz sozusagen der jeweiligen Städte.
Warum eine eigene Lesbengeschichte? Das berührt auch das Thema, warum sagen wir heute queer. Zum einen vielleicht im Zusammenhang unserer Ausstellung queer, wir haben sie auch queer genannt und haben ganz viele aber auch über die homosexuelle und über die lesbische Geschichte erzählt, diese Anfangszeit. Zu der queeren Community gehören ganz maßgeblich lesbische und homosexuelle Gruppierungen, weil sie diejenigen waren, die eben aufgrund spezifischer Diskriminierungsweisen, die durch Gesetze geschaffen worden sind, hohe Aufmerksamkeit bekommen haben. Im Zuge allerdings dieser sexuellen Orientierungsgruppen, so muss man sagen, sind immer im Windschatten Gruppen auch adressiert worden, die auf der Suche nach einer geschlechtlichen Identität waren. Trans-, inter- oder non-binäre Menschen, die sich auch nicht mehr in dieses heterosexuelle, in dieses binäre System hineinbegeben wollten und wiederfinden konnten.
Und deren Entwicklung ist eine, die immer parallel ging, aber so offen wie bei den Lesben und Schwulen nicht verfolgt werden kann, weil sie wirklich noch mehr im Untergrund leben mussten. Es war noch schwieriger, zum Teil auch unsichtbarer, weil sie natürlich, wenn entdeckt, meist mit dem Label homosexuell bezeichnet worden sind. Das hat jetzt erst sozusagen in den, ja, kann man sagen Ende der 1990er mit den 2000er Jahren stattgefunden. Dann kam eben dieses Label Queer, was letztendlich vor allem ja auch meint, eine Solidargemeinschaft schaffen für eine Situation, wo Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen oder identitären geschlechtlichen Zugehörigkeit oder der Infragestellung der Heterosexualität angegriffen werden. Dass wir uns einfach sozusagen größer machen, als nur vereinzelt bleiben. Das steckt eigentlich dahinter. Und deswegen ist queer ein Dachbegriff für viele unterschiedliche Gruppierungen.
Dennoch hat es eine Berechtigung, dass Schwule von Schwulsein reden und Lesben von Lesben. Und meiner Meinung nach, als Geschlechterhistorikerin, schaue ich eben auch darauf, genau diese Unterscheidung sehr wohl weiterhin zu machen, weil sie ein Eigenrecht haben. Ich gehe mit Respekt sozusagen, schaue ich auf diese Gruppen, weil sie auch unterschiedliche Interessen haben, unterschiedliche Erfahrungswelten haben. Und insofern haben Lesben auch eine eigene Geschichte. Und diese Geschichte ist eben nicht nur eine Geschichte der Homosexualität, es ist auch eine Geschichte der Frauenunterdrückung.
Lesben sind in erster Linie Frauen und werden aufgrund ihrer geschlechtlichen Zugehörigkeit zu einer Gruppe unterdrückt in Gesellschaften und dann auch noch wegen ihrer Sexualität, die eben nicht eine heterosexuelle ist, die Frauen eigentlich nur zugesprochen wird, weil sie in Beziehung zu Männern stehen. Das macht ja die Heterosexualität einer Gesellschaft sozusagen auf. Diese Beziehungsform immer wieder bezogen auf den Mann. Und ich finde, das wird manchmal zu wenig gemacht. Das wird dann unter dem Label Queer, wird alles untergeordnet. Zum Teil gibt es auch unter den Gruppierungen deswegen Kämpfe. Wer ist mehr, wer ist weniger und so weiter. Es gab es auch bei Menschen, die in Konzentrationslagern waren, die verschiedenen Gruppen, dass es dann da sozusagen so „Opferkämpfe“ gab. Wer ist mehr, wer ist weniger, wer ist größer gewesen und so weiter. Und ich denke, wir sollten uns klarmachen, es ist toll, so eine Gemeinschaft gefunden zu haben unter so einem Label. Wir sind dann mehr, so sollte man sich das eigentlich anschauen. Weil in Situationen, in denen es eben nicht mehr selbstverständlich ist, so sein zu wollen, wie man ist, also das Menschsein zu feiern nur, wo es eben nicht mehr selbstverständlich ist, sondern wo schon wieder Zuordnungen stattfinden, dass man gemeinsam dagegen und für sich selber einstehen kann.
Greta Civis: Und wenn wir jetzt mal, wir haben jetzt 50 Jahre zurückgeschaut nach 1975, da nochmal einen Ausblick gemacht, weitere 50 Jahre zurück. Wenn wir jetzt mal 50 Jahre in die Zukunft schauen oder träumen. Ich weiß, dass mögen Historikerinnen immer nicht in die Zukunft schauen. Wenn du dich doch trauen würdest, das zu tun oder wenn du träumen würdest, wie wäre es dann in 50 Jahren für die Solidargemeinschaft oder auch für Lesben?
Julia Paulus: Ich habe ja sozusagen meinen Zugriff auf Geschichte über die Frage, welche Rolle spielt das Geschlecht bei all dem, was wir tun? Ob wir nur ökologische, politische Fragen stellen oder ob es darum geht, Wie bauen wir Häuser? Wie gestalten wir Städte? Aber natürlich auch, wie gestalten wir Beziehungen? Ich könnte jetzt sagen, eigentlich möchte ich, dass diese Frage relevant ist in 50 Jahren, sondern dass es viel wichtiger ist zu gucken, was ist das gute Leben für alle? Und ich glaube, dass die Frage nach Geschlecht, ich finde, sie ist eine der wichtigsten Fragen. Aber genauso wie die Frage nach Herkunft, wie die Frage nach Religion, nach körperlicher Beeinträchtigung oder sogenannter Gesundheit, dass diese Einteilung von Menschen in bestimmte Gruppen, dass das nicht mehr nötig sein muss, weil wir im besten Falle auf uns gucken und jedes Mal wieder vollständig überrascht sind, wie besonders das Gegenüber ist im Verhältnis zu mir selber, wenn ich mich im Spiegel sehe und darüber freue.
Greta Civis: Vielen Dank, liebe Julia.
Julia Paulus: Dankeschön.
Greta Civis: Und falls ihr jetzt auch mehr wissen wollt über queere Geschichte in Westfalen und darüber hinaus, dann empfehle ich einen Blick auf die Webseite queer-muenster.de. Dort findet ihr die digitale Ausstellung Queer Münster mit Material und weiteren Links.
Regionalgeschichte auf die Ohren. Untold Stories – Westfalens verborgene Geschichten erzählen Dieser Podcast ist eine Koproduktion des LWL Medienzentrums für Westfalen und des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte. Das Projekt wird von der LWL Kulturstiftung im Rahmen des Kulturprogramms zum Jubiläumsjahr 2025 – 1250 Jahre Westfalen gefördert. Schirmherr des Kulturprogramms ist Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.