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3. Folge der Podcast-Reihe „Regionalgeschichte auf die Ohren“: „Es ging um den Protest am Establishment“

• 0:00 - 0:32

Kathrin Nolte: Sie hören den Podcast des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte. In dieser Folge sprechen wir über das Buch „Bewegte Dörfer“. Wer sind wir? Mein Name ist Kathrin Nolte und ich bin im Institut für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Meine Interviewpartnerin Dr. Julia Paulus ist die Herausgeberin des Sammelbandes. Angesichts des 50-jährigen Jubiläums der 68er-Bewegung fragen die Autorinnen und Autoren danach, ob es die 68er auch außerhalb der Metropolen wie Frankfurt, Berlin oder München gab.

• 0:33 - 1:05

Wie sah also die Protestbewegung in der verschnarchten Provinz aus? Ein Beispiel dafür ist die Besetzung des Hauses Frauenstraße 24 in Münster. Von 1973 bis 1981 besetzten Studierende die Immobilie, die der damalige Besitzer aus Spekulationsgründen abreißen lassen wollte. Der Protest gegen den Abriss und für die Schaffung von Wohnraum, der zu dieser Besetzung führte, gehörte zu den ersten Hausbesetzungen in der Bundesrepublik überhaupt und war außerdem die längste.

• 1:06 - 1:15

Bis heute gibt es eine selbstverwaltete Kneipe in diesem Haus. Frau Paulus, welche weiteren lokalen Beispiele für derartigen Protest gibt es?

• 1:16 - 1:58

Julia Paulus: Das ist eine riesengroße Gruppe von Protestbewegung, die sich in dieser Zeit, das heißt, wir sprechen hier von den End-60ern, vor allem aber von den 1970er Jahren, gegründet haben. Es gab Jugendzentren, das sind somit die bekanntesten Einrichtungen, die in dieser Zeit ja den Protest sozusagen eine Grundlage boten. Es sind sogenannte soziokulturelle Zentren. Es gibt z.B. hier in Münster eins, das eine ganz lange Tradition hat, nämlich das Kuba, das Kulturzentrum hier in Münster, das auch verschiedene kulturelle Angebote hat und vor allem auch soziale Beratungsstellen.

• 1:59 - 2:32

Mittlerweile ist […] Es gab die Anti-Atomkraft-Bewegung, es gab Protest gegen Atom- und Waffenlager und deren Produktion. Es gab Umweltschutz und Ökologiebewegungen. Es gab alternative Informationspolitiken, die sich dann in Stadtteilzeitungen ihren Raum schufen. Es gab eine freie Theaterszene, die sich auf einmal gründete, Musikgruppen. Es gab auch freie Kinos, wie hier zum Beispiel in Münster mit dem heute sehr bekannten Cinema.

• 2:32 - 3:20

Es gab verschiedene Lebensreform-Projekte, so würde man vielleicht sagen, wie zum Beispiel die Landkommunen im Allgäu. Es gab auch alternative Tanz- und Zirkus-Projekte. Und nicht zu vergessen, es gab die große neue Frauenbewegung. Es hing im hohen Maße eigentlich davon ab, was konkret vor Ort für, man kann es so nennen, ja Problemlagen entstanden sind, was aufrüttelte, was in irgendeiner Form Unbehagen bereitete, was aber letztlich auch zum Anlass genommen werden konnte, um ein anderes Miteinanderleben mit anderen Wertmaßstäben experimentell erproben und propagieren zu können.

• 3:20 - 3:23

Kathrin Nolte: Das heißt also, der Protest lässt sich nicht über einen Kamm scheren?

• 3:23 - 3:58

Julia Paulus: Auf keinen Fall. Es war absolut unterschiedlich. Wie gesagt, die einen, die haben es mehr mit der Kultur gehabt und wollten endlich mal was Anderes als diese drögen Stadttheater mit ihren meist nur sehr konventionellen Theateraufführungen, wo ich sage mal, wo man als Jugendlicher hin geschleust worden ist, aber eigentlich keine Lust hatte. Aber man wollte trotzdem Anteil haben an dieser Form der Kunst und Kultur. Und dann hat man eigene Theaterformen auch entwickelt mit auch neuen Inhalten.

• 3:58 - 4:28

Es gab zu dieser Zeit auch, ich sage mal ganz neue und frische Impulse, selbst von Theatermachern bzw. von Schriftstellern, die sich auch auf neue Theaterformen eingelassen haben. Musikgruppen aber auch nicht zu vergessen, dass gerade ich sage mal Rock und Pop auch sehr wohl Alternative zum Teil auch, man kann sagen ja, Protestinhalte hatten, die sind in dieser Zeit auch entstanden und so was wie Landkommunen in jeglicher Form.

• 4:28 - 4:59

Die einen, die wollten nur raus aufs Land, weil sie die, wie man so schön sagte, die Schnauze voll hatten von ihrer engen elterlichen Dorfumgebung. Und die anderen, die wollten aufs Land, weil sie unbedingt etwas Neues ausprobieren wollten, ökologisch auch anders wirtschaften wollten und vor allem frei leben wollten. Nicht in diesen engen, auch eheähnlichen Zusammenhängen mit vielen Menschen zusammen mit alten, mit jungen, mit mehreren Frauen, mit mehreren Männern.

• 5:00 - 5:05

Kathrin Nolte: Warum haben Sie gerade eine regionale Forschungsperspektive gewählt?

• 5:07 - 5:45

Julia Paulus: Ich glaube, wir sind ja hier auch in einem explizit so genannten Institut für Regionalgeschichte. Ich glaube, dass gerade auf dieser Ebene sich politische, soziale, aber eben auch kulturelle Veränderungen, Entwicklungen und Verschiebungen besonders gut, ja fast wie in einem Brennspiegel nachvollziehen lassen. Es gibt vielfältiges Quellenmaterial, an das man, wenn es sich um zum Beispiel privates Schrift- oder eben Objektgut handelt, unter anderem auch einen besseren Zugang erhält als in eher anonymen Großstädten.

• 5:47 - 6:20

Und zudem sind viele Akteurinnen und Akteure, zumal bei diesem Thema, das es gerade mal 40/ 50 Jahre zurückliegt, meist noch am Ort für Interviews greifbar. Hinzu kommt, dass gerade meiner Meinung nach im regionalen, im lokalen Raum Prozesse des Aushandelns, sei es einvernehmlich oder sei es konfliktreich, häufig quer liegen, zu dem ja man kann sagen Erwartbaren.

• 6:20 - 6:53

So kann sich das vermeintlich eindeutig Konservative als durchaus zum Beispiel ja reformorientiert und das scheinbar Progressive als ziemlich reaktionär erweisen. Wenn man zum Beispiel denkt, auch an ökologische Bewegung, die es sehr wohl auch schon in den 1930er-Jahren gab, wenn man so will, oder in den 1920ern, wo sie eben Heimatbewegung hießen und zum Teil relativ völkisch auch argumentierten. So was gab es sehr wohl auch.

• 6:53 - 7:35

Und da muss man immer ganz genau aufpassen, inwiefern progressive Strömung eben auch relative, ja manchmal auch reaktionäre Inhalte vertreten. Koalitionen, das ist vielleicht das nächste, sind auf der sogenannten kleinräumigen Ebene, also der lokalen oder auf der regionalen Ebene, meist einfacher, eben auch über politische Grenzen hinweg herzustellen. Konflikte können auf der anderen Seite aber umso schwerwiegendere Folgen haben, bis hin zum Aus- und Wegzug von Protagonistinnen und Protagonisten, bis hin zum Abbruch von Familienkontakten.

• 7:36 - 7:41

Kathrin Nolte: Was interessiert Sie denn als Historikerin daran, genau solche Themen zu erforschen?

• 7:43 - 8:32

Julia Paulus: Als Historikerin und als ich sag mal Julia Paulus generell finde ich, dass es gerade bei diesem Thema eben nicht ausreicht, sich mit dieser vermeintlich großen Politik zu beschäftigen, mit den vermeintlich zumeist ja auch männlichen Machern der Politik zu beschäftigen. Das wäre beileibe nur die eine Seite der Geschichte. Und gerade bei diesem Thema muss ja im hohen Maße, um genau den Protest an diesem Establishment geht, der dann auch noch explizit außerparlamentarisch und autonom geführt wurde, ist es sicherlich eher die unbedeutendere Seite.

• 8:32 - 9:09

Außerdem lassen sich kulturelle Wandlungsprozesse und um die geht es ja bei all diesen Themen nur mit und an den spezifischen Gruppen, Bildungsprozessen und an diesen Partizipationsweisen der unterschiedlichen Akteurinnen und Akteure studieren. Nicht nur an Texten über sie, wie wir das ja häufig haben. Darüber hinaus interessieren mich generell Vorgänge in der Geschichte, die vermeintlich von der ja man kann sagen von der ja sogenannten Norm, was auch immer das sein soll, keiner weiß das so genau abweichen.

• 9:09 - 9:38

Also das sogenannte Andere, das Überraschende, letztlich die Diversität in der und mit der wir eigentlich alle, einige besser, andere nur schwer aushaltbar, wie wir das leider heutzutage mitbekommen, leben. Wer macht diese Normen eigentlich? Was wollen sie, diese Normen und für wen normieren wir?

• 9:38 - 10:11

Und wer wird dadurch aus- und wer wird eingeschlossen? In diesem Zusammenhang stellt sich dann auch die gern berühmte Frage nach der, das wird häufig so beschrieben, Ungleichzeitigkeit des oder im Gleichzeitigen. Also sozusagen der kleine Protest im Großen oder der eigensinnige Versuch, die Welt zu verändern, und sei es nur die Kleine, die unmittelbar vor Ort befindliche.

• 10:11 - 10:11

Kathrin Nolte: Vielen Dank für das Gespräch.

Julia Paulus: Bitte schön.