Podcast-Reihe „Regionalgeschichte auf die Ohren“: Teil 2 der Serie „Geschichte schreiben – wie Historiker:innen arbeiten“
• 0:04 - 0:39
Kathrin Nolte: Historikerin oder Historiker sein, ein Beruf oder eine Berufung? Was bedeutet es eigentlich, in der Geschichte zu arbeiten? Antworten auf diese und weitere Fragen wollen wir vom LWL-Institut für westfälische Regionalgeschichte mit der Serie „Geschichte schreiben“ geben. Deshalb beschäftigen wir uns in dieser Folge der Podcast-Reihe Regionalgeschichte auf die Ohren mit dem Berufsalltag des Instituts Teams und mit den Vorurteilen, die es gegenüber Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftlern gibt.
• 0:39 - 1:10
Bevor wir starten, möchte ich uns kurz vorstellen. Mein Name ist Kathrin Nolte und ich verantworte die Wissenschaftskommunikation im Institut. Mein Interviewgast PD Dr. Claudia Kemper arbeitet seit April 2021 als wissenschaftliche Referentin im Institut. Da wir uns im Berufsalltag duzen, bleiben wir beide beim Du während dieser Podcast-Aufnahme. Claudia, du bist seit 2006 als Historikerin tätig. Wann hast du deine Taxilizenz gemacht?
• 1:11 - 1:53
Claudia Kemper: Da ich mich ja für eine ganz gute Autofahrerin halte, wie so viele wahrscheinlich wäre das tatsächlich zwischenzeitlich eine Option gewesen. Ich glaube, die Zeiten, wo man richtig viel Geld mit Taxifahren verdient, die sind lange vorbei. Und ich habe mich dann doch auf andere Sachen wieder konzentriert. Nee, aber im Ernst zwischenzeitlich sah es schon so aus, dass die Karriere oder das Fortkommen oder der nächste Job, die nächste Geldquelle immer etwas prekär aussah, weil wie so viele, fast ausschließlich alle in der Wissenschaft, habe ich auch in vielen Projekten in vielen befristeten Verträgen gearbeitet.
• 1:53 - 2:27
Und wenn du das einige Jahre hintereinander machst, dann fängt man schon zwischendurch an zu zweifeln. War das jetzt eine richtige Entscheidung, dass ich diesen Berufsweg eingeschlagen habe? Aber ich habe persönlich großes Glück gehabt, dass ich dann nach einigen Jahren hier am
LWL-Institut für Regionalgeschichte eine Stelle bekommen habe. Und ich bin sehr froh, dass ich hier in dieser Festanstellung jetzt auch so arbeiten kann, wie man sich das vielleicht auch vorstellt, dass Historikerinnen und Historiker arbeiten.
• 2:28 - 2:43
Dass die auch zwischendurch mal die Möglichkeit haben, über das eine oder andere etwas länger nachzudenken und nicht schon wieder den nächsten Projektantrag schreiben, um das nächste Projekt bewilligt zu bekommen, um damit dann auch ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
• 2:44 - 3:24
Kathrin Nolte: Dazu müssen wir den Hörerinnen und Hörern kurz mal erklären, dass das innerhalb der Wissenschaft sowohl an Universitäten als auch bei Forschungseinrichtungen nicht selbstverständlich ist, dass man einen unbefristeten Arbeitsvertrag hat. Das ist eher die Ausnahme. Und deswegen hangeln sich viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Zeitvertrag zu Zeitvertrag. Das einmal zum Hintergrund. Jetzt denkt man ja, wenn man als Historikerin arbeitet, häufig an alte Schinken, die in vollgestaubten deckenhohen Regalen in muffigen Bibliotheken stehen. Musst du dir oft die Hände bei deiner Arbeit waschen? Beziehungsweise: Was machst du eigentlich so den ganzen Tag?
• 3:24 - 3:37
Claudia Kemper: Ganz ehrlich, ich glaube, dass Fachbibliotheken und auch unsere Fachbibliothek hier im Institut wahrscheinlich sauberer sind als so manches Bücherregal bei anderen Leuten zu Hause oder auch bei mir zu Hause.
• 3:37 - 4:08
Das liegt daran, dass Bücher unsere Fachliteratur, die vorgehalten wird, natürlich ein kostbares Gut ist und nach wie vor meistens auch auf Papier vorrätig ist. Und das soll ja über Jahre, Jahrzehnte aufbewahrt werden und zur Verfügung stehen. Deswegen sind Bibliothekare und Bibliothekarinnen da sehr pingelig und achten darauf, dass die Lagerung auch sauber, meistens auch bei bestimmten Temperaturen gemacht wird.
• 4:08 - 4:51
Und ganz anders ist es aber bei Quellen. Das ist eigentlich, sage ich mal, die Drecksarbeit. Und dann muss man vielleicht auch noch mal unterscheiden zwischen Historiker:innen die alte Geschichte oder Mittelalter Geschichte machen. Und diejenigen, wie wir hier am Institut die Zeitgeschichte machen. Das stellt man sich vielleicht gar nicht vor, aber Mittelalter-Historiker:innen, die haben ja ganz wenig Quellen zur Verfügung stehen, weil einfach so wenig überliefert ist. Und diese Quellen sind meistens picobello, supersauber hinter Glas oder auch im besten Fall digitalisiert und die werden dann rauf und runter analysiert und abgeglichen.
• 4:51 - 5:30
Und dürfen vielleicht nur mit Handschuhen angefasst werden. Und so weiter. Und bei uns in der Zeitgeschichte, die sich ja so grob um die letzten 80 bis 90 Jahre kümmert. Erst mal kommen wir fast um vor Quellen. Und zweitens sind die häufig auch sehr dreckig. Also wir haben alles Mögliche zur Verfügung stehen: Akten, Zeitungen, Flugblätter, Telefaxe, Briefe, Broschüren, Alltagsgegenstände, Kassetten, falls sich irgendjemand noch erinnert, Fotos noch und nöcher. Viel davon ist schon in den Archiven und da kriegt man die dann zur Verfügung gestellt, schon sortiert und meistens in sauberen Mappen einsortiert.
• 5:30 - 6:05
Aber viel davon lagert einfach auch noch in Kellern, auf Dachböden und muss tatsächlich von uns erst noch entdeckt werden. Also gerade wenn wir so die letzten 30 Jahre, sage ich mal, bearbeiten wollen, was wir hier am Institut ja auch sehr gerne machen, dann ist viel von dem Material, das wir brauchen, um diese Geschichten überhaupt erst mal zu rekonstruieren, noch überhaupt nicht in den Archiven. Und wir wissen auch nicht, wo die sind. Und dann geht die Suche los und wir landen dann meistens auch bei Privatleuten im Keller und dann wird's dreckig. Ja.
• 6:05 - 6:13
Kathrin Nolte: Aber ist es dann auch manchmal so, dass man tatsächlich Schätze dort findet? Dass es ein Zufallsfund ist, womit man vielleicht gar nicht gerechnet hat.
• 6:13 - 6:55
Claudia Kemper: Auf jeden Fall. Also ganz aktuell arbeiten ja meine Kollegin Julia Paulus und ich an einer Ausstellung zur queeren Bewegung, Geschichte hier in Münster. Und bearbeiten da so die letzten 30 Jahre und wollen mal sehen, wie sich diese Geschichte überhaupt rekonstruieren lässt. Und im Zuge der Recherchen dafür hat vor allen Dingen Julia Paulus schon ganz tolle Schätze in Kellern von ehemaligen Aktivistinnen gehoben. Das sind dann Kassettenaufnahmen von Radiosendungen, womit sie überhaupt nicht gerechnet hat, weil sie eigentlich auf der Suche nach vielleicht Protokollen war von einem Verein oder so was.
• 6:55 - 7:03
Kathrin Nolte: Das erklärt dann aber auch die E-Mail, die wir bekommen: Hat noch jemand einen Kassettenrekorder? Damit man sich auch die Kassetten tatsächlich anhören kann.
• 7:03 - 7:22
Claudia Kemper: Das ist eine Riesenherausforderung für uns in der Zeitgeschichte, wenn wir die letzten so 40, 50 Jahre bearbeiten wollen, weil das Datenmaterial, das vor 40 Jahren hergestellt worden ist oder vor 30 Jahren, ich sage mal so ein Wort wie Floppy-Disc oder so lässt sich natürlich mit unseren heutigen Gerätschaften überhaupt nicht mehr abspielen.
• 7:23 - 7:55
Darum kümmern sich vor allen Dingen Archive. Die stehen da vor einer riesigen Herausforderung und die sind da auch gut dabei, dieses Datenmaterial zu sichern. Aber das wird uns noch weiter beschäftigen, weil die letzten 20 Jahre sind ja noch die ganzen E-Mails dazugekommen. Und wenn so eine Verwaltung anfängt, sich zu digitalisieren, dann schlagen wir ja schon die Hände über dem Kopf zusammen, weil wir uns überlegen: Okay, wie machen wir es denn in 20 Jahren, wenn wir versuchen, die Geschichte von Anfang der 2000er zu schreiben?
• 7:55 - 8:26
Wo bleibt dieses Material, denn? Verwaltungsunterlagen sind superwichtige Grundlage für uns, um Geschichten über politische Prozesse zu schreiben, wirtschaftliche Zusammenhänge und und und. Ja, das macht die ganze Sache sehr spannend. Alles, was ich jetzt gesagt habe, aber ist natürlich auch immer eine Herausforderung. Und man ist in diesem Job dann, das merkt man vielleicht schon, wenn ich das so erzähle, nie wirklich alleine, sondern ist auf viele andere auch angewiesen.
• 8:27 - 9:00
Es ist: Ich sitze zwar den ganzen Tag, du hast gefragt, was ich den ganzen Tag mache. Ich sitze meistens alleine am Schreibtisch und denk so vor mich hin und schreibe so vor mich hin. Aber im Prinzip ist meine Arbeit abhängig von vielen, vielen anderen Menschen. Also angefangen bei unserer Bibliothek und unserem Bibliothekar über die Archive, mit denen ich zusammenarbeite oder wo ich darauf angewiesen bin, dass das Material, von denen auch gut aufbereitet wird und ich von denen auch erfahre, was ich nutzen kann, bis hin zu meinen Kolleg:innen, mit denen ich zusammen auch Projekte entwickle.
• 9:01 - 9:31
Oder natürlich du in der Wissenschaftskommunikation, die dann dafür zuständig ist, das auch unter die Leute zu bringen. Also die Sachen, die ich jetzt nicht selbst unter die Leute bringe. Aber das stellt man sich vielleicht ein bisschen traditionell so vor, dass so eine Historikerin, so ein Historiker, morgens ganz entspannt ins Büro schlendert und dann sich hinsetzt, erst mal ein Käffchen trinkt und überlegt: Joa, was mache ich denn heute, was für eine Geschichte erzähl ich denn mal, und schreibt die dann auf.
• 9:32 - 10:11
Ist nicht ganz so, sondern man hat erstens eine Menge Deadlines. Deadline ist quasi irgendwie der Untertitel unseres Jobs. Und zweitens arbeitet man indirekt eben mit vielen anderen Stellen zusammen, um sein eigenes Projekt nach vorne zu bringen. Das ist vielleicht vor vielen Jahren mal möglich gewesen, dass man so ein Projekt, so ein Forschungsprojekt irgendwie allein durchziehen kann. Und nach mir die Sintflut. Aber das ist schon lange vorbei. Und das ist auch gut so, weil Geschichtswissenschaft ist ein sehr dynamisches Feld, weil gerade in der Zeitgeschichte wir uns ja auch immer mit der Gegenwart so ein bisschen rumschlagen.
• 10:11 - 10:29
Also mit Problemen, die in der Gegenwart sind und der Frage: Ja, wie ist es eigentlich dazu gekommen? Und da ist es schon gut, dass man da nicht alleine in seinem Kämmerchen sitzt und sich Gedanken macht, sondern immer auch im Austausch ist mit auch nicht nur Historiker:innen, sondern auch mit ganz anderen Leuten.
• 10:29 - 11:16
Kathrin Nolte: Deshalb macht ihr auch viele Dienstreisen. Ihr fahrt ins Archiv, ihr recherchiert. Irgendwann schreibt ihr auch und dann veröffentlicht ihr auch. Das heißt, das, was ihr euch ausdenkt und was ihr erarbeitet, kann man lesen. Es ist ja oft so, dass man denkt, die schreiben dicke Schinken, die dann im Bücherregal mehr oder weniger verstauben. So ist es ja nicht. Also die Monografien, wie es heißt, sind ja eher die wenigsten Veröffentlichungen, die man sich in seinen Lebenslauf schreiben kann, als Historikerin oder als Historiker. Ihr schreibt viele Aufsätze für historische Zeitschriften zum Beispiel und darüber, was ihr dort erarbeitet, darüber haltet ihr ja auch Vorträge und tauscht euch auch mit der Fachwelt aus.
• 11:16 - 11:37
Ich denke, das zeigt auch noch mal, dass man nicht alleine im Elfenbeinturm sitzt und dass es dann eben doch nicht eine brotlose Kunst ist. Trotzdem gibt es ja Vorurteile. Hat jeder von uns. Wie häufig begegnen dir Vorurteile in deinem Berufsalltag?
• 11:37 - 12:08
Claudia Kemper: Ich persönlich bin immer erstaunt, was für ein traditionelles Bild von Historikerinnen und Historikern bei Leuten noch vorherrscht, die jetzt nicht direkt mit diesem Beruf zu tun haben. Weil häufig diese erstaunte Gegenfrage kommt: Was du? Die hätte ich jetzt nicht gedacht, irgendwie so was. Und wo ich mich dann frage: Okay, was hätte ich machen müssen, um als solche erkannt zu werden? Aber ich bin dann auch wieder ganz froh, dass ich nicht als solche erkannt werde und nicht diesem traditionellen Bild vielleicht entspreche.
• 12:08 - 12:33
Aber das tun, glaube ich, die allerwenigsten Historiker:innen. Anscheinend gibt es da immer noch das Bild in der Öffentlichkeit, dass das Menschen sind, die so vor allen Dingen unter sich bleiben und sich komplizierte Sachen gegenseitig erzählen oder ausdenken und keine Lust darauf haben, mit Nicht-Historiker:innen darüber zu reden und irgendwie auch ein bisschen verschroben sind und in ihrer eigenen Welt unterwegs sind.
• 12:33 - 13:29
Und dann, wie gesagt, ist das auch gar nicht mehr möglich, so zu arbeiten, weil sich die Geschichtswissenschaft und auch die Arbeitsbedingungen der Geschichtswissenschaft erst mal in den letzten Jahren sehr verändert haben. Und viele Historiker:innen wollen auch raus mit ihren Sachen. Also die allerwenigsten haben da keine Lust drauf, irgendwie mit der Öffentlichkeit zu kommunizieren, sondern das ist ja das, wo wir uns auch die Resonanz holen für das, was wir erarbeiten, wenn wir damit in die Öffentlichkeit gehen, Vorträge halten oder auch an Projekten teilhaben, wo Laien integriert werden, studentische Projekte usw. und deswegen sind wir genauso, wie soll ich sagen, normale Arbeitnehmer:innen, Kreative wie andere auch.
• 13:30 - 13:59
Kathrin Nolte: Ihr motiviert euch aber schon darüber hinaus, dass ihr gewisse Interessen habt. Also man muss sich, glaube ich schon: Es nötigt keinen, ein Thema zu behandeln, sondern das sind ja meistens eigene Interessen, die ihr verfolgt. Und daraus resultiert ja auch eure Arbeitsmotivation. Jetzt hast du das gerade angesprochen und vielleicht kannst du noch mal ein bisschen schildern, was sich in den vergangenen Jahren an den Arbeitsbedingungen so geändert hat, damit die Hörerinnen und Hörer sich das besser vorstellen können.
• 13:59 - 14:19
Claudia Kemper: Wir haben es ja ganz am Anfang schon gesagt, dass die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft, wie man immer so sagt, prekär sind und dass strukturell, das heißt in einfachen Worten, dass der allergrößte Teil der Menschen, die in der Geschichtswissenschaft arbeiten, in befristeten Verträgen arbeitet.
• 14:19 - 15:05
Und das hat zugenommen. Das war zu Zeiten, also noch bevor ich überhaupt angefangen habe zu studieren, war das nicht die Regel, sondern da war schon die Aussicht, dass, wenn man einen Abschluss hat, wenn man auch eine Promotion hat, dass man in irgendeiner Form irgendwo auch eine unbefristete Festanstellung bekommt: im Museum, in einem Institut, als Fachangestellte, was auch immer. Und das hat sich in den letzten 20 Jahren vielleicht sogar ein bisschen mehr Jahren deutlich geändert, weil Universitäten solche Stellen nicht mehr zur Verfügung stellen, weil es da auch immer größere Kürzungen gegeben hat und die sogenannte Drittmittelfinanzierung eine immer größere Rolle spielt.
• 15:05 - 15:45
Das heißt, dass man Geld immer einwirbt, um Projekte zu finanzieren, die dann eine bestimmte Laufzeit haben. 3, 4, 5 Jahre. Und fünf Jahre sind schon toll. Und deswegen sind wir hier am
LWL-Institut für Regionalgeschichte natürlich in einer echt großartigen Position, dass wir die Möglichkeit haben, ohne diesen Stress, ohne diesen Druck an den Sachen zu arbeiten, die uns auf der einen Seite als Wissenschaftler:innen interessieren, die aber auch auf der anderen Seite relevant sind für den LWL, im LWL und in der Regionalgeschichte.
• 15:46 - 16:32
Das trifft in der Regel irgendwie zusammen, weil wenn ich mich dazu entscheide, Regionalgeschichte zu betreiben, dann betreibe ich auch Regionalgeschichte, also Regionalgeschichte mit westfälischen Schwerpunkt bzw. und Umgebung und mach dann nicht pauschal Globalgeschichte. So also das ist schon dann auch eine Entscheidung gewesen. Was sich noch geändert hat, ist mit Sicherheit die Kommunikation nach außen. Also vor 20, vor 30 Jahren habe ich ja schon gesagt, da konntest du als Historiker dein Ding durchziehen und musst das nicht unbedingt jetzt so öffentlich auftreten oder versuchen, deine Ergebnisse auch so aufzubereiten, dass das Nicht-Fachleute verstehen.
• 16:32 - 17:21
Das hat sich verändert vor allen Dingen durch die Möglichkeiten, die es gibt. Also Blogbeiträge schreiben, kürzere Aufsätze schreiben in Publikationen, die sich an ein Nicht-Fachpublikum richten, gehören mittlerweile völlig normal zu unserem Arbeitsalltag. Also mir persönlich macht das auch viel Spaß. Die Vorstellung, dass ich mein Leben lang nur 30-seitige Fachaufsätze schreibe, würde mich schon ein bisschen bedrücken, sondern ich finde es großartig, dass ich die Möglichkeit habe, auch meine Ergebnisse, mein Wissen in anderen Formaten und auf einer anderen Ebene auch zu vermitteln. Weil davon lebe ich. Ich bekomme da ja auch Resonanz. Und das fördert ja dann auch wieder kreative Prozesse.
• 17:21 - 17:31
Kathrin Nolte: Das hast du schon gerade ein paar Einblicke gegeben. Vielleicht magst du uns noch mal was dazu erzählen, was besonders dir an deiner Arbeit Spaß macht. Warum machst du das gerne?
• 17:31 - 18:26
Claudia Kemper: Ich habe bis jetzt gesagt, dass wir als Historiker:innen völlig normal sind, so wie alle anderen und uns nicht wahnsinnig unterscheiden. Aber es ist schon auch so, dass wir ein bisschen nerdy sind. Also ohne geht es nicht. Was ich mag, ist, dass ich beide Seiten in mir sowohl das Kreativsein wollen als auch das nerdy sein und dass dieses Bedürfnis, dass ich sehr gerne in klaren Strukturen mit auch sehr gründlicher Arbeit und mit vielen Regeln verbunden, auch arbeiten kann. Dass ich das zusammenbringen kann bei meiner Arbeit. Also wenn ich Projekte entwickle oder wenn ich innerhalb eines Projektes mir überlege: Wie könnte ich jetzt? Welche Perspektive möchte ich einschlagen? Oder was kann ich mit meinen Studierenden auch umsetzen, zum Beispiel.
• 18:27 - 19:20
Dann ist das kreativ, da gibt mir keiner eine Vorgabe. Da sagt mein Chef nicht, aber bis nächste Woche muss das jetzt so und so gemacht sein. Das ist das eine. Gleichzeitig arbeite ich aber in der Community, die sich schon vor vielen Hunderten Jahren darauf geeinigt, dass wir nach klaren Regeln arbeiten, wie zum Beispiel unsere wissenschaftlichen Arbeitstechniken. Und da gibt es auch überhaupt keine zwei Meinungen, die müssen eingehalten werden, dass, wenn ich mit Quellen arbeite, dass ich die auf eine bestimmte Art und Weise belege, dass ich die transparent mache, dass ich, wenn ich Dinge veröffentliche, immer auch absichere, dass das ein Kollege X oder Kollegin Y nachvollziehen kann, wo ich das Material her habe, dass ich mein Argument, dass ich mache, immer abwäge und nicht polemisiere oder pauschalisiere.
• 19:20 - 19:48
Das klingt jetzt erst mal so einfach. Das hat aber mit sehr wichtigen Regeln zu tun, damit ich mich nicht nur mit meinen Kolleginnen hier vor Ort verstehe, sondern auch mit Leuten gut verstehe, die ich gar nicht kenne und die womöglich in München, Hamburg oder sonst wo arbeiten. Denn wenn ich was veröffentliche und die das lesen, dann muss ich wissen, dass die nachvollziehen können, wie ich das erarbeitet habe.
• 19:49 - 20:22
Kathrin Nolte: Spätestens seit der Coronapandemie haben wir noch mal vor Augen geführt bekommen, welche Bedeutung Wissenschaft hat und wie wichtig Wissenschaft ist. Die Coronapandemie und damit auch die Entwicklung des Impfstoffes sind durch die Naturwissenschaften verbunden. Aber beziehen wir das noch mal auf die Geisteswissenschaften. Wieso ist eine wissenschaftliche Aufarbeitung und Einordnung unserer Vergangenheit und speziell im Institut unserer Vergangenheit vor der eigenen Haustür so wichtig für unsere Gesellschaft?
• 20:22 - 20:39
Claudia Kemper: Das finde ich eine total spannende Frage, weil gerade auch in Zeiten, wenn sich ökonomische Krisen abzeichnen, gerne ja mal die Frage gestellt wird: Welche Relevanz hat so was Geschichte oder auch andere geisteswissenschaftlichen Fächer oder Institute?
• 20:40 - 21:12
Warum muss man das betreiben? Und ich versuch das mal zu vergleichen mit den Naturwissenschaften, weil es dann vielleicht ein bisschen zugänglicher ist, das, was wir hier machen, am Institut, aber auch an vielen anderen Instituten gemacht wird oder Universitäten. Das ist ja Grundlagenforschung. Wir schaffen quasi erschaffen erst mal Wissen auf dieser Grundlage wird weiteres Wissen produziert.
• 21:12 - 21:48
Und wenn man sich vorstellt, dass zum Beispiel Biolog:innen auch Grundlagenforschung betreiben, aus denen dann irgendwann Jahre später, wie zum Beispiel zuletzt passiert, ein Impfstoff dann hergestellt wird. Dann werden diese grundlagenforschenden Biolog:innen, dann auch nicht gefragt: Warum macht ihr das? Also, wenn die erzählen, was die dafür Experimentalreihen aufgestellt haben, das versteht ja auch kein Mensch. Also vielleicht höchstens nur der Biologe die Tür weiter oder so was. Dann veröffentlichen die das und dann müssen sie weiter forschen und weiter forschen und haben eventuell ein Ziel vor Augen.
• 21:48 - 22:27
Aber es ist noch keine Anwendung in Sicht, sondern das kommt dann vielleicht erst Jahre später, wenn das Pharmaunternehmen diese Grundlagenforschung anwenden kann, um eben ein Medikament zu entwickeln. Und ein kleines bisschen ist es auch so in der Geschichtswissenschaft. Was in Museen steht, was in Schulbüchern steht, was in guten Zeitungsartikeln steht, worüber wir uns eigentlich tagtäglich dann auch austauschen über unsere Vergangenheit. Das ist möglich, weil es Grundlagenforschung gibt, und das machen wir Historikerinnen und Historiker. Und ich würde sagen, das ist Antwort genug auf deine Frage, warum es so wichtig ist für die Gesellschaft.
• 22:28 - 22:59
Kathrin Nolte: Das auf jeden Fall. Mir stellt man häufig die Frage: Warum muss man immer noch über das Dritte Reich sprechen? Ist Geschichtswissenschaft irgendwann endlich? Aus meiner Perspektive als Mitarbeiterin für die Wissenschaftskommunikation würde ich es ganz klar mit Nein beantworten. Es gibt immer wieder neue Quellenfunde und es gibt auch innerhalb der Geschichtswissenschaften eine Weiterentwicklung der Methoden. Das heißt, euren Job werdet ihr irgendwann nicht verlieren, weil ihr überflüssig seid.
• 22:59 - 23:32
Claudia Kemper: Wäre jetzt schon seltsam, wenn ich was anderes behaupten würde. Aber tatsächlich ist es so: Neben den neuen Quellen gibt es aber auch immer wieder neue Fragen an alte Quellen. Und deswegen ist Geschichtswissenschaft und auch Geschichtswissenschaft, die unabhängig arbeiten kann, die nicht nur mit bestimmter zielgerichteter Auftragsforschung zum Beispiel arbeiten kann, sondern sich auch immer wieder darum kümmern kann, schon bekannte Quellen neu zu befragen, so wichtig.
• 23:32 - 24:01
Du hast das Beispiel Nationalsozialismus gebracht. Das ist ein ganz eingängiges Beispiel, dass sich die Fragen an diesen Teil der Vergangenheit im Laufe der Jahrzehnte natürlich immer wieder verändern. Also was in den 60er und 1970er-Jahren an Forschung betrieben worden ist, um überhaupt erst mal diese Geschichte und den Holocaust aufzuarbeiten, überhaupt zu rekonstruieren, was ist passiert?
• 24:02 - 24:54
Das unterscheidet sich von dem, was jetzt 50 Jahre später, weiterhin total relevant ist und die nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Gesellschaft dann bewegt. Das zeigt ja auch, das zeigt sich ja daran, wie Diskussionen, politische Diskussionen ja auch über die Vergangenheit geführt werden und nach wie vor auch mit großen emotionalen Konflikten verbunden ist. Und wir von der historischen Grundlagenforschung, sage ich mal, sind dafür zuständig, immer wieder auch neue Perspektiven auf Vergangenheit zurichten, damit politische Diskussionen in der Gegenwart mit Substanz geführt werden können. Das wünschen wir uns natürlich immer. Wer wünscht sich das nicht? Aber zumindest diejenigen, die wollen diese Substanz zur Verfügung steht.
• 24:54 - 25:06
Kathrin Nolte: Vielen Dank für die vielen Einblicke, die du uns gewährt hast in deinen Arbeitsalltag und auch das, was eigentlich Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler machen. Ich bedanke mich sehr herzlich für das Gespräch bei Dir.
• 25:06 - 25:07
Claudia Kemper: Ich danke dir auch.